Als der Windhändler mir diesen Gelegenheitsjob angeboten hatte, zögerte ich erst, da mir absolut nicht danach war, nach Gilneas zu reisen, nur um mich zu einem zerfallenen Haus durchzuschlagen und ein paar alte Bücher zu holen. Und außerdem wollte ich mich nicht mit Vergangenem auseinandersetzen – wie immer eben. Ich hatte die blöde Angewohnheit, vor Unannehmlichkeiten davonzulaufen, als mich mal damit auseinander zu setzen. Aber es roch gewaltig nach schnellem und einfach verdientem Gold und so konnte ich nicht anders als zuzusagen, denn scheinbar legte jemand großen Wert auf diese Bücher – aber das interessierte mich eigentlich nicht.
Jetzt war ich schon wieder auf dem Rückweg und ich muss sagen, es ging wirklich schnell. Ich hielt mich abseits der Wege und konnte so den meisten Unannehmlichkeiten aus dem Weg gehen. Einzig das Blut, das, zusammen mit dem stetigen Regenwasser, an meiner rechten Wange hinab rann, ließ erkennen, dass es ein paar kleine Schwierigkeiten gab – mir kamen zwei untote Knochengerippe in die Quere, aber bis die richtig wussten, wie ihnen geschah, war alles schon wieder vorbei. Nun zog sich eine Wunde, beginnend auf meinem Nasenrücken, unter meinem rechten Auge vorbei bis zur Wange hinunter. „Nur ein kleiner Kratzer…“ Ich wischte mir das Blut provisorisch aus dem Gesicht und setzte meinen Weg fort.
Nach einiger Zeit kam ich an eine Weggabelung. Eigentlich hätte ich einfach nur links weiter gehen müssen, aber diese rechte Abzweigung war mir so vertraut und zog mich magisch an – sie führte einst nach Dämmerhafen. So nah würde ich nie mehr an diesen Ort kommen. Ich konnte nicht anders und nahm den rechten Weg. Langsam schritt ich den verkommenen Pfad entlang, kam durch den verfallenen Torbogen und nach einiger Zeit stand ich dann am Ufer dessen, was einmal mein Zuhause war. Dort, wo einst Dämmerhafen lag, war jetzt nur noch Wasser.
Ich verweilte dort einige Minuten. Oder waren es Stunden? Ich hatte völlig die Zeit vergessen, als ich dort am Ufer im Regen stand und auf die Wasseroberfläche starrte, Gedanken aus der Vergangenheit kreisten in meinem Kopf umher. Als die Gedanken sich wieder sammelten und ich blinzelnd zu mir kam, fiel mir plötzlich etwas ins Auge. Etwas bekanntes, etwas, was ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Es hatte sich im Unrat am Ufer verfangen. Mit wenigen langen Schritten war ich dort. Das Gewicht der vollgesogenen Stoffpuppe zerrte regelrecht an ihr, als ich sie aufhob. Ich hielt sie mit beiden Händen fest und sah sie an, sah Bilder vor meinem inneren Auge vorbeifliegen, Bilder aus meiner Kindheit, als alles noch in Ordnung war, als meine Familie noch eine Familie war.
Unter die Regentropfen und das Blut, die mein Gesicht hinunterliefen, mischten sich Tränen der Wehmut und der Trauer. Ich sah auf und bemerkte, dass ich bis auf die Haut durchnässt war. Die Kapuze meines Mantels war nach hinten gerutscht und das Wasser hatte nun freie Bahn und lief mir den Nacken hinab. Aber es war mir egal, denn in meinem Inneren machte sich ein weiteres Gefühl breit – Heimweh zerrte schwer an meiner Seele.
„Z U H A U S E“ In meinem Kopf formten sich Buchstaben zu einem Wort. Ich schloss die Puppe fester in meinen Griff und sah zum wolkenverhangenen Himmel. Es wird Zeit!
[font='Calibri']Ich machte mich endgültig auf den Rückweg, entschlossen, dass es endlich Zeit wird, mit dem Davonlaufen aufzuhören…[/font]