Abbi kam nach abgeschlossenem Wachdienst in den Hauptraum des Haupthauses, um sich ein wenig zu entspannen. Sie ließ ihren Blick durch den Raum wandern, vorbei an der immer pflichtbewussten Bernice, dem Bild das sie selbst aufgehängt hat und der kleinen Sitzrunde, an der die Lupi meistens ihre Treffen abhielten. Ansonsten war der Raum eher leer, was Abbi etwas betrübte. Sie hätte gewünscht, dass sie nach der Arbeit ein wenig mit ihren Freunden plaudern könnte, ein paar Neuigkeiten austauschen, ein paar eigene Geschichten erzählen und ansonsten einfach nur zusammen den Feierabend genießen. Aber so wie es aussah, waren die meisten Lupi in der Regel so beschäftigt, dass man sich fast nur noch an den Wochenenden zum Rapport bei Riwena traf.
Abbi beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Wäre es nicht eine gute Idee, die anderen zu einem kleinen, inoffiziellen Stelldichein einzuladen? Natürlich wusste sie nicht auswendig, wann wer von ihren Freunden wann am ehesten Zeit hatte, aber einen Versuch war es wert. Deswegen schrieb Abbi ein paar rasche Zeilen auf einen Zettel und hing diesen gut lesbar ans Schwarze Brett der Animae Lupi:
"An alle Lupi:
Hiermit lade ich alle, die Zeit und Lust haben, zu einem gemütlichen Abend ein, an dem wir uns einfach hier im Tal zusammensetzen und uns Geschichten erzählen. Es können Erzählungen aus dem eigenen Leben sein, oder vielleicht auch Sagen oder Geschichten, die ihr irgendwann einmal irgendwo gehört oder gelesen habt. Ich denke, dies würde wieder zu etwas mehr Geselligkeit im Tal führen. Als Termin würde ich den nächsten Donnerstag, den 3. November um 20 Uhr vorschlagen. Sofern niemand etwas anderes vorschlägt, werde ich weiterhin diesen Termin dafür ansetzen. Falls jedoch einigen von euch ein anderer Termin lieber wäre, könnt ihr diesen gerne unterhalb dieser Einladung vorschlagen.
Abigail Parker"
Unterhalb dieser Einladung ist eine große, freie Fläche auf dem Zettel, mit genug Platz für mehrere Terminvorschläge.
Die Einladung hängt nicht mehr am schwarzen Brett. Stattdessen hängt dort die aufgeschriebene Geschichte von Abbi:
"Vor langer, langer Zeit begab es sich, dass eine Gruppe Kämpferinnen der Vrykul mit einem Drachenboot in See stach. Es waren Angehörige der Valkyria, einer Schwesternschaft die sich dem Dienst an einen der Titanenwächter verschrieben hat. Seine Name lautet... Odyn. Für Krieger der Vrykul gab es nichts ehrenvolleres, als in ruhmvoller Schlacht zu sterben, so dass ihre Seelen nach dem Tod von den Val'kyr emporgetragen werden in die Hallen der Tapferkeit, wo sie bis in alle Ewigkeit an Odyns Seite als seine strahlenden Krieger kämpfen.
Eine der Valkyria an Bord des Schiffes war eine vielversprechende Kriegerin namens Astrid Hjalfsdottir. Auch sie erhoffte sich Ruhm und Ehre durch die Schlacht gegen den Feind, gegen den sie nun zu Felde zogen. Wie alle anderen Schildmaiden war sie bewaffnet mit Schild, Axt und Helm und konnte den Kampf kaum abwarten.
Die Fahrt des Drachenboots dauerte viele Tage, vielleicht sogar Wochen. Lange Zeit regte sich nichts am Horizont. Aber schließlich geschah das, worauf sie alle gewartet hatten... ein dichter, unheimlicher Nebel zog auf, der das gesamte Meer um sie herum bedeckte. Die Valkyria griffen nach ihren Waffen, denn sie wussten nur zu gut, was dieser Nebel für sie bedeutete, welcher Feind in seinem Inneren auf sie wartete. Und dann tauchte es schemenhaft aus dem Nebel auf... ein anderes Drachenboot, allerdings anders als das ihre. Seine Segel waren zerfetzt, der Rumpf behangen mit Algen und ein Gestank ging von ihm aus wie von zahllosen Leichen. Und dann erschien der zottige Kopf eines ihrer Feind am Bug des Schiffes...
Es war ein Vrykul, allerdings hatte er kränklich grüne Haut, war von Seetang und Seepocken überwuchert und seine Augen glühten in einem unheiligen Licht. Es war einer der Kvaldir, der verfluchten Diener von Odyns ewiger Feindin, Helya. In ihrem Auftrag befuhren sie die Meere, um die Seelen aller Seefahrer zu stehlen und sie in Helyas finsteres Reich zu bringen, Helheim. Dort wären sie zu einer unheiligen Existenz verflucht und könnten niemals in Odyns heilige Hallen aufsteigen.
Die Valkyria machten sich zum Kampf bereit. Hinter dem ersten Kvaldir sahen sie dann den Rest der feindlichen Mannschaft. Die Kvaldir stießen wilde Kampfschreie aus, als die beiden Schiffe näher kamen. Astrid wusste: Vor diesem Gegner gab es kein Entkommen und keine Gnade. Nicht dass sie oder ihre Schwestern es anders wollten... sie waren die Auserwählten Odyns und sie waren hier, und sie würden weder vor dem Tod noch vor der Schlacht zurückschrecken, wussten sie doch, welch Glorie auf sie in den Hallen der Tapferkeit wartet.
Schließlich trafen die beiden Schiffe aufeinander... und für Astrid versank die Welt in einem Chaos aus Eisen und Blut. Die Schlacht war heftig und breitete sich auf beide Schiffe aus, als Mitglieder beider Mannschaften hinübersprangen, um dem Feind zu begegnen. Eine lange Zeit tobte der Kampf hin und her, und es war ungewiss, wer den Sieg hervortragen würde.
Astrid Hjalfsdottir war es, die der Schlacht die Wende brachte. Es wurde ihr klar, dass sie den feindlichen Kapitän finden und ausschalten musste, um den Kampfgeist der Kvaldir zu schwächen. Sie kämpfte sich durch die Reihen der Feinde, bis sie endlich ihrem Gegner an Deck des Kvaldirbootes gegenüberstand. Sein Name war Bogu Knochenspalter, und er war der größte, furchteinflößendste und brutalste seiner Crew. Astrid machte ihn mit einem gellenden Kampfschrei auf sich aufmerksam. Knochenspalter ergriff ein riesiges Enterbeil und brüllte ihr seine Antwort entgegen. Dann prallten sie aufeinander und ein Kampf auf Leben und Tod entbrannte.
Zuerst schien es, als würde Astrid ihrem Gegner unterlegen sein. Doch sie schaffte es, ihm mit aller Kraft ihren Schild vor die Brust zu schlagen und ihn somit ins Stracheln zu bringen. Knochenspalter taumelte rückwärts, und Astrid setzte ihm nach, um ihm ihre Axt in den Körper zu rammen. Sie traf ihr Ziel, doch kurz zuvor schaffte es der Kvaldir, ihr einen messerscharfen Dolch entgegenzuwerfen. Der Dolch bohrte sich in ihre Kehle, noch während Knochenspalter auf die Planken seines Schiffes fiel. Astrid schnappte nach Luft, und ihr wurde schwarz vor Augen. Noch bevor sie das Bewusstsein verlor, war das letzte was sie hörte, die höhnische Stimme ihres sterbenden Gegners: "Du glaubst, deine Seele wird nach diesem Kampf aufsteigen an Odyns Seite? Närrin! Du wirst enden wie all unsere Opfer, in den finsteren Tiefen von Helmheim, als verlorene Seele, bis in alle Ewigkeit!"
Astrid war furchtlos wie alle Valkyria, jedoch als sie diese Worte hörte, bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie hätte mit Freuden ihr Leben für ihre Schwestern und Odyn gegeben, aber dieses Schicksal erschien ihr zu grausam. Es gab jedoch nichts, was sie noch tun könnte... hilflos sank ihr Körper neben den ihres Feindes, und das Leben entschwand ihm.
So blieb Astrid Hjalfsdottir den Valkyria als Heldin in Erinnerung. Doch was wurde aus ihr? Sprach der Kvaldir die Wahrheit und kam ihre Seele nach Helheim? Keine der Sagen der Barden und Skalden der Vrykul kennt die Antwort. Nirgends wird von einer strahlenden Heldin der Val'kyr namens Astrid erzählt, und nirgends von einer finsteren Kämpferin der Helya mit dem gleichen Namen. Und somit endet also die Legende der Astrid Hjalfsdottir... als unvollendete Geschichte.