*Aus Riwena's Sicht*

Riwena legte die Rüstung ab. Viele Gedanken schwirrten durch ihren, von dem kurzen roten Haar bedeckten, Kopf. Ihre Gefühlswelt war nach dem gemeinsamen Abend völlig durcheinander. Zum Einen war es die Einsamkeit, die ihr nun, da Claudie und Gran vorläufig im Lande waren, wieder schmerzlich bewusst geworden, dann war da noch die Sorge um die Lupi, die an der Front kämpften und das schleichende und beklemmende Gefühl der Furcht, was mit ihrem Zuhause oder ihrer Gemeinschaft passieren würde. Nun aber, mischte sich auch Wut hinzu. Wut über die Dinge, die Gran zu ihr sagte. Sie wusste, dass er es nicht so meinte und unglücklich ausgedrückt haben mochte, doch dass milderte dieses ergreifende Gefühl nur wenig.

"Ich meine... unser Planet verblutet und wir tänzeln durch Azeritseen und Pflücken Azeritbröckchen um sie uns an den Kopf zu werfen."

Er hatte Recht und dies wusste die Anführerin nur zu gut. Doch offene Zweifel an der Krone bringen bekanntlich Gefahren mit. Es war ein Glück, dass er diese unbedachten Worte vor Ihnen geäußert hatte. Da, wo er sicher war. Doch würde er seine Zunge auch im Zaum halten können, wenn er wieder zurück an der Front ist?

"An der Front...", murmelte Riwena, als sich eine weitere unglückliche Aussage in ihrem Gedächtnis regte.

"Du hast Glück, du sitzt hier in Surwich und kümmerst dich um den Papierkram und das Dorf... ich steh da draußen und muss mich von Untoten mit Seuchenfässern bombardieren lassen und was weiß ich..."

Diese Worte trafen, so wahr sie auch gesprochen wurden, zu sehr Riwena's Stolz. Es war nicht ihre Entscheidung und auch nicht das, was sie unter Glück definieren würde. Sie ärgerte sich im Nachhinein darüber, dass sie die Fassung daraufhin verloren hatte, aber nichts würde sie glücklicher machen, als in diesen schweren Zeiten an der Seite ihrer Familie zu stehen und diese im Kampf zu begleiten. Seite an Seite für die Gerechtigkeit und gegen den Kriegshäuptling zu kämpfen. Die Lupi beschützen, wenn sie Schutz am Nötigsten hätten. Sie aus dem Dreck zu ziehen und mit einem Lächeln und einem Kampfschrei zu motivieren, alles zu geben. Das wäre ihr Glück. Doch durch den Umzug nach Surwich kamen andere, weitere Verantwortungen. Gerade in den Kriegszeiten ist die Versorgung schlecht und fernab von Sturmwind schlichtweg grottig. Sie musste versuchen, die Verbliebenen Lupi, sowie auch das Vieh zu versorgen und zu beschützen und konnte nichts tun, als auf Nachricht zu warten. Vielleicht war dies die Definition von Gran's Glück. Riwena jedoch fühlte sich, wie in einem goldenen Käfig.

Sie konnte es ihm nicht vorwerfen. Der Krieg ist kein Stilleben auf einer Leinwand. Der Krieg ist ein Albtraum, gemalt mit Blut auf verwesenden Körpern.

Mit ihrem Finger strich Riwena gedankenverloren über die Buchrücken der Bücher, die in dem Regal standen. Es waren zu großen Teilen Bücher über Magie. Jene, die sie im Sinne Dreo's aus dem Weitblicktal mitgenommen hatte. Zumindest hoffte sie es, denn weder hatte sie sich die Zeit genommen, den Inhalt der Bücher zu überprüfen, noch hätte sie diesen verstanden. Längst waren dies auch nicht alle Bücher gewesen, doch wollte sie einen Teil von ihm in der nun nicht mehr ganz so neuen Heimat bei sich haben. Ihre Hand hielt bei einem Buch, dessen Klappe schon sehr mitgenommen und abgegriffen aussah. Der Titel verriet, dass dies ein Buch für die Grundkenntnisse der Magie zu sein schien. Scheinbar war es so etwas wie ein Nachschlagewerk, wenn man einmal die Wurzeln eines magischen Problems erörtern musste. Zumindest nahm Riwena das an, als sie das Buch aus dem Regal zog und den Staub, der sich mittlerweile auf der Oberseite des Buches angesammelt hatte, wegpustete.
"Ist es doch schon so lange her?", murmelte sie gedankenversunken zu sich selbst, als sie das Werk unter ihren Arm klemmte und das Haus verließ. Es war nicht die geschätzte verstärkte und mit dem gilnearischen Wappen versehene Tür, die sie schon so oft geöffnet und geschlossen hatte, welche sie nun hinter sich zu zog. Es war eine banal einfache Tür, die schlichtweg den Zweck diente, den Wind und die Kälte aus dem Haus fern zu halten.
Einen Fuß setzte sie vor den anderen und als sie schließlich den unteren Treppenrand erreichte, drehte sie sich um und ließ den Blick das Haus hinauf wandern.
Das Haus war ohne Zweifel um ein vielfaches Größer, als das der alten Heimat und auch, wenn es sehr ansehnlich und in gutem Zustand war, fühlte es sich nicht so recht wie ein Zuhause an. Es war die vergangenen Wochen großteils sehr einsam. Ab und an fanden sich ein paar Lupi zum gemeinsamen Abendbrot darin ein, dennoch war das Gebäude den Großteil der Zeit nur von einer Person bewohnt. Und das war sie selbst.
Ein unangenehmes Gefühl der Einsamkeit packte die Anführerin. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, verharrte noch einige Momente in diesen Gedanken und straffte schließlich ihre Schultern.
Auch wenn sie ihren Liebsten sehr lange nicht mehr gesehen hatte, so war sie hier nicht alleine. Orleya, Wendelin, Claudie und Feyaria kümmerten sich gut um das Dorf und hauchten diesem Leben ein.
Auch Gran und Abbi ließen sich blicken, wann immer es ihre Pflicht an der Front erlaubte. Sie schätzte sich glücklich, dass diese Gemeinschaft auch in diesen schweren Zeiten immer wieder zueinander fand.
Sie ging zum Steg. Im Vorbeigehen an der Koppel warf sie einen Blick auf die dort eingestellten Pferde, die genüsslich ihr Heu futterten und die Hühner, um dessen Wohl sich Wendelin vorbildlich sorgte. Sogar Namen hatte er ihnen gegeben. Der Gedanke brachte sie zum schmunzeln, gefolgt von einem Kopfschütteln. Mit holen Schritten ging sie über den Steg und ließ sich an dessen Rand nieder. Sie legte das Buch auf ihren Schoß und schlug es an der ersten Seite auf.
"Dann wollen wir einmal sehen....", murmelte sie leise und lenkte ihren Blick auf die Zeilen. Vermutlich würde sie kein Wort davon so recht verstehen, aber so konnte sie zumindest die körperliche Distanz zu ihrem Verlobten überbrücken, ihm etwas näher sein. Und vielleicht würde ihr das auch helfen, einmal abzuschalten, um sich anschließend wieder auf das Wesentliche, das Leben in Surwich konzentrieren zu können.